Die Vergessenen der psychoonkologischen Versorgung

Pulsnitz

Folgen und Entwicklungsmöglichkeiten am Beispiel der VAMED Rehaklinik Schwedenstein in Pulsnitz

Onkologische Erkrankungen sind unser ständiger Begleiter – ob als Erkrankter oder im direkten familiären Umfeld. Die Kontakte im familiären Umfeld sind belastet durch die Fokussierung auf die onkologische Erkrankung, die Angst vor dem Verlust des Familienmitgliedes oder einem Rezidiv beherrschen die Kommunikation. Trotz einer unbestritten besseren psychoonkologischen Versorgungstruktur in den letzten Jahren werden die Patienten und vor allem deren Angehörige nicht umfassend erreicht und die Phase der Reintegration in Alltags- und Berufsleben trotz immenser Vulnerabilität (Verletzlichkeit) in der Versorgung vernachlässigt. 


Ein besonderes Angebot in Pulsnitz


Im klinischen Alltag der Psychosomatischen Rehabilitation an der VAMED Klinik Schwedenstein in Pulsnitz bei Dresden konnte eine deutliche psychoonkologische Unterversorgung von Krebserkrankten und vor allem deren Angehörigen bei Aufnahme in unsere Einrichtung beobachtet werden. Die Betroffenen gaben an, Monate bis Jahre nach dem Ereignis unter psychischen Symptomen zu leiden, die im Rahmen der Krebserkrankung auftraten und keiner adäquaten psychoonkologischen Versorgung zugeführt wurden. Seit dem Jahr 2015 bietet die Klinik daher ein umfassendes psychoonkologisches Therapieprogramm für die Betroffenen an. Dieses besteht aus einer psychoonkologischen Gruppen- und Einzeltherapie, einer themenzentrierten Ergotherapie, einem spezialisierten Beratungsangebot im Bereich der Ernährung und einer gemeinsamen Kochgruppe. Individuell werden Sport-  und Physiotherapieangebote ergänzt.


Ein Angebot, das auch Jörg Müller-Wehle zu schätzen weiß und welches ihm im Spätsommer dieses Jahres während der Reha in Pulsnitz etwas Kraft und Lebensmut zurückgab. Mit der psychoonkologischen Unterversorgung musste er seine ganz persönlichen Erfahrungen machen. 2008 wurde bei ihm Leukämie diagnostiziert. Zwei Transplantationen in der Charité verliefen erfolgreich, Ärzte und Schwestern kümmerten sich rührend um ihn. „Auch eine psychoonkologische Anlaufstelle gab es hier“, erinnert er sich. „Aber angeboten hat mir diese Unterstützung niemand. Damals habe ich mir darüber wenig Gedanken gemacht, denn das Team war immer für mich da. Heute aber weiß ich, dass Psychoonkologie viel, viel weitergeht als die rein medizinische Wiederherstellung“, erzählt Jörg Müller-Wehle.


Der wissenschaftliche Hintergrund


Da aber eine Beobachtung nur eine Beobachtung ist und keine Zahlen liefert, die wiederum wichtig sind, um in wissenschaftlichen und medizinischen Kreisen auf ein Problem aufmerksam zu machen, führten wir in den Jahren 2017/2018 eine systematische Datenerhebung durch. Durch einen Fragebogen wurden bei allen Rehabilitanden der Einrichtung onkologische Erkrankungen durch eine freiwillige Selbstauskunft erfasst und psychoonkologische Vorbehandlungen und erhaltene Informationen zu Angeboten der Deutschen Krebshilfe und den Krebsberatungsstellen erfragt. Es lagen im Erhebungszeitraum von 12 Monaten über 100 Anamnesebögen mit onkologischem Hintergrund vor. Den Rehabilitanden, die immer noch unter den Folgen der Erkrankung litten, wurde die zusätzliche psychoonkologische Behandlung während der rehabilitativen Maßnahme angeboten. Die Hauptdiagnose der einbezogenen Rehabilitanden war in 90 % der Fälle der Depression bzw. der rezidivierenden Depression zuzuordnen. Bei den Rehabilitanden, die selbst an Krebs erkrankt waren, musste bei fast einem Drittel der Betroffenen die Diagnose des Fatigue Syndroms (Erschöpfungssyndrom nach onkologischer Erkrankung) zusätzlich gestellt werden, was bis dato, trotz vorbestehender Symptomatik, nicht erfolgt war. Die nicht erfolgte psychoonkologische Versorgung konnte bei mehr als 75% der Rehabilitanden nachgewiesen werden. Die Gruppe der Angehörigen war dabei deutlich überrepräsentiert mit mehr als 83 % der Befragten ohne Angebote. Dabei erhielten Krebserkrankte nur in ca. 50% der Fälle eine Information oder ein Angebot. Die Männer wurden durch die bestehenden Angebote schlechter erreicht als Frauen. Unsere Annahme, dass die Krebserkrankten, aber vor allem die Angehörigen unzureichend in eine psychoonkologische Behandlung bzw. Informationsvermittlung eingebunden worden, sahen wir damit als bestätigt an.


Mit einem zunächst lange unerkannten Fatigue Syndrom kämpfte auch Jörg Müller-Wehle. Einsicht und Diagnose kamen spät, nämlich erst Jahre nach der Stammzellengabe in der Charité, wo er rückblickend gern schon psychoonkologische Unterstützung in Anspruch genommen hätte. Doch alles lief anders: Pflichtbewusst und guter Dinge ging er nur drei Monate nach der Stammzellentherapie wieder zur Arbeit. Zwar fühlte er sich irgendwie immer müde und „schwer“, doch es ging irgendwie weiter. Warnsignale und Nachwirkungen der Chemo, wie sein stark geschwächtes Immunsystem, permanente Probleme mit der Haut, den Augen und den Schleimhäuten, ignorierte er. Erst 2018 ging gar nichts mehr. Es folgten Arbeitsunfähigkeit und Psychotherapie. Erst jetzt gab es die Diagnose Fatigue Syndrom. Heute ist er froh, seine Reha in der VAMED Klinik Schwedenstein angetreten zu haben. Seit April 2018 zählt die Reha mit Hund zum Leistungsspektrum der Klinik, sodass er auch seinen geliebten Labrador Arthur mitnehmen konnte. „Dass das geht, konnte ich mir zuerst gar nicht vorstellen. Dass ich hier die Reha mit meinem Freund an meiner Seite antreten kann, ist ein ganz tolles Gefühl“, erklärt Jörg Müller-Wehle.


Nachweis der Erfolge und Ausblick


In der Auswertung des Behandlungsergebnisses wurde deutlich, dass über 90 % der Rehabilitanden mit diesem intensivierten psychoonkologischen Angebot ihre Ziele umfassend erreichen konnten und dieser Anteil in der Kontrollgruppe deutlich niedriger lag. Dies verdeutlicht, dass das psychoonkologische Angebot wirksam und sinnvoll ist. Langfristig kann empfohlen werden, die onkologische Vorerkrankung bzw. die Krebserkrankung im näheren familiären Umfeld stärker in der Behandlungsplanung zu gewichten und ein entsprechendes Gruppenangebot in weiteren psychosomatischen Rehabilitationskliniken zu etablieren.
Nicht vergessen werden darf im Zusammenhang mit onkologischen Erkrankungen das Krankheitsbild der Posttraumatischen Belastungsstörung mit den wiederkehrenden belastenden Bildern, Ohnmachtsgefühlen und der körperlichen Übererregungssymptomatik. Dies kann in Folge einer Krebserkrankung und Krebsbehandlung mit zum Teil aggressiven und invasiven medizinischen Interventionen auftreten. Die Betroffenen können in der VAMED Klinik Schwedenstein, welche seit über 25 Jahren auf die Behandlung der Posttraumatischen Belastungsstörung spezialisiert ist, eine ergänzende spezielle Traumatherapie erhalten.


Selbsthilfeinitiative Leben mit Krebs


In der Konsequenz der verdeutlichten Datenlage haben wir uns entschlossen, für eine bessere Information der Betroffen in der Region aktiv zu werden. Dazu wurde 2018 die Selbsthilfeinitiative Leben mit Krebs gestartet. Wir möchten über die Probleme und Folgen, aber auch über die möglichen Unterstützungen informieren und mit Betroffenen dafür Sorge tragen, dass sich dieses gemeinsame Wissen verbreiten kann und jeden anspricht, denn viele Betroffene werden durch bereits bestehende Angebote nicht erreicht. Mit kurzen und unkomplizierten Vorträgen informieren wir die Teilnehmer und inspirieren diese zu einem regen Austausch. Wir wollen Wissen vermitteln, aufklären, Anregungen geben und neueste Erkenntnisse in der Krebsforschung und der psychoonkologischen Forschung kommunizieren. Dabei halten wir uns eng an die gesetzlichen Vorgaben des nationalen Krebsplans und stärken die Hilfe zur Selbsthilfe der Betroffenen durch unsere fachliche Kompetenz und durch regelmäßige Weiterbildung. Wir möchten Betroffene miteinander und mit den Fachpersonen ins Gespräch bringen, damit Informationsgrad, Kompetenz und Krankheitsverarbeitung sowohl beim Krebserkrankten, als auch bei seinen Angehörigen, gestärkt werden und psychischen Folgeerkrankungen vorgebeugt werden kann. Neben Gastdozenten aus anderen Fachdisziplinen wird die Selbsthilfeinitiative ausschließlich von, durch die Deutsche Krebsgesellschaft zertifizierten Psychoonkologen moderiert und gestaltet und durch onkologisch erfahrene Sozialarbeiter unterstützt. Darüber hinaus zeichnet sich unsere Selbsthilfeinitiative durch eine bewusste Fortbildung im Bereich der kommunikativen Kompetenzen aus. Dabei ist vor allem die anstehende Qualifizierung und Spezialisierung durch die Deutsche Krebsgesellschaft im Rahmen des Kompass Trainings zu nennen. Sowohl die Beschäftigung von ausgebildeten Kommunikationspsychologen, als auch die Anfang nächsten Jahres anstehende Kompass-Zertifizierung zur Stärkung der kommunikativen Kompetenz, stellen ein deutliches Qualitätsmerkmal bei der Beratung und Therapie von Erkrankten und Angehörigen dar.


Gesundheitslotse


Bereits heute profitieren bei uns sowohl stationäre, als auch externe Patienten bereits von einer stark verbesserten Kommunikation und Transparenz bezüglich gesetzlicher Hilfsangebote bei der Krankheitsbewältigung. Die Möglichkeiten der Prävention, Behandlung und Nachsorge von Krebserkrankungen waren noch nie so zahlreich und vielfältig wie heute. Allerdings ist dies vielen Betroffenen noch immer zu wenig bekannt. Das möchten wir ändern. Aus diesem Grund wurde durch uns der Gesundheitslotse ins Leben gerufen. Dieser mittlerweile drei Teile umfassende Lotse soll Betroffenen, wie auch Angehörigen gleichermaßen die Möglichkeiten medizinischer und therapeutischer Behandlungen zielführend aufzeigen und die Orientierung erleichtern. Der Gesundheitslotse ist bereits seit Mitte des Jahres auf unserer Homepage unter der Rubrik Selbsthilfeinitiative „Leben mit Krebs“ einsehbar und herunterzuladen. Die VAMED Klinik Schwedenstein hat es sich zur Aufgabe gemacht diesen Weg kontinuierlich fortzusetzen, um die heutigen Möglichkeiten und Fortschritte in der stationären, aber auch der ambulanten psychoonkologischen Behandlung aufzuzeigen und umzusetzen. Und dieser Prozess wird stetig fortgesetzt werden, um den Krebserkrankten und von Krebs Betroffenen eine größtmögliche Unterstützung anzubieten.

Autoren: Claudia Böttcher, Michael Kroll, Rayshat Liyanov